Figurationen des Bösen
Laufzeit: ab 08.10.2018
Partner: Prof. Dr. Stefan Neuhaus
Kurzfassung
Kontexte und Texte
„Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, was man läßt“ (Wilhelm Busch). Ohne das Gute gäbe es das Böse nicht – und umgekehrt. Ein Blick auf unsere Zeit ergibt den paradoxen Befund, dass einerseits, in bestimmten kulturellen und sozialen Kontexten, klare Zuschreibungen und Zuordnun- gen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ existieren, sie in anderen Kontexten aber relativiert oder tabuisiert werden, bis hin zu ihrer vollständigen Negation. Das Kokettieren mit Motiven der „...Kontexte und Texte
„Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, was man läßt“ (Wilhelm Busch). Ohne das Gute gäbe es das Böse nicht – und umgekehrt. Ein Blick auf unsere Zeit ergibt den paradoxen Befund, dass einerseits, in bestimmten kulturellen und sozialen Kontexten, klare Zuschreibungen und Zuordnun- gen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ existieren, sie in anderen Kontexten aber relativiert oder tabuisiert werden, bis hin zu ihrer vollständigen Negation. Das Kokettieren mit Motiven der „Boshaftigkeit“ durchzieht die kulturellen Praktiken der Postmoderne: Schwarze Kleidung, grimmiger Gesichtsausdruck, unver- frorene Coolness, die ‚Pommesgabel‘ bei Schlagerfestivals oder ein ausgefallener Seriengeschmack. Omnipräsent erscheinen die Variationen der Symbolik des Bösen, oft genug scheint sie eine Voraus- setzung zur Teilhabe zu sein, insbesondere der Zugehörigkeit zu sozialen Gemeinschaften. Dabei steckt aber in diesen Ausdrucksformen womöglich keine ursprüngliche oder übernatürliche Wertig- keit. Andererseits lässt sich untersuchen, inwiefern es eine lange Tradition der Entwicklung solcher Wertvorstellungen in Religion, Literatur und Alltagsmoralen gibt und welche Voraussetzungen zur Teilhabe an welchen Gemeinschaften damit einhergehen.
Angesichts des großen Forschungsfeldes – insbesondere sei hier an die Religionen gedacht, die Vor- stellungen vom Bösen entwickeln, deren Funktion historisch oft die Zuweisung einer Nichtteilhabe an Gemeinschaften war, in Form einer teils radikalen Exklusion (bis hin zur physischen Auslöschung etwa bei den Hexenverbrennungen) – sind Einschränkungen geboten, in diesem Fall auf Schriften der Philosophie und Texte der Literatur. In der fiktionalen Literatur sind „Figur und Person“1 zu unter- scheiden. Abgesehen von trivialen Texten, die weiterhin mit klaren Dichotomien arbeiten, werden in den der Kunst zugerechneten Werken des 20. Jahrhunderts, also der sogenannten Moderne und Postmoderne, solche Dichotomien aufgelöst. Doch kann es das Böse – wie das Gute – dann eigentlich noch geben?
Die Entwicklung, die nachzuzeichnen ist, ist die Geschichte der Thematisierung und Bearbeitung einer dialektischen Bewegung von Exklusion und Inklusion. Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass die Aufklärung mit ihrer programmatischen Setzung von Rationalität und Vernunft zu einer Verdrän- gung der negativen Potentiale geführt hat: „Was die Klassik eingeschlossen hatte, war nicht nur eine abstrakte Unvernunft, in der sich Irre und Freigeister, Kranke und Verbrecher vermischten, sondern auch eine gewaltige Reserve an Phantastischem, eine schlafende Welt von Monstren [...].“2 Das Wort „Monster“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet soviel wie „Mahnzeichen“, „mahnen“ oder „warnen“. Hans Richard Brittnacher hat unter dem Monströsen so unterschiedliche Ausprägungen wie „Gespenster, Vampire, Monstren, Teufel oder künstliche Menschen“ subsumiert.3 Es ist kein Zu- fall, dass die Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zunehmend von solchen Gestalten be- völkert wird, die dann auch Normierungen erfahren und Orientierungen (vor)geben. Was wir uns un- ter einem Monster vorstellen, ist von Mary Shelleys Roman Frankenstein or The Modern Prometheus (1823) und dem gleichnamigen Film von James Whale (1931) geprägt, während die Vorstellung von einem Vampir auf Bram Stokers Roman Dracula (1897) und auf Friedrich Wilhelm Murnaus Verfil- mung Nosferatu (1922) zurückgeht. Bis in die Gegenwart scheinen sich solche Vorstellungen vom Bö-
1 Jannidis: Figur und Person.
2 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 367. 3 Vgl. Brittnacher: Ästhetik des Horrors.
sen abgenutzt zu haben. Sie sind reflexiv geworden und durch die Distanz ist eine entweder konsum- torisch-abgeklärte oder ironische Haltung entstanden.4 Stephen Kings Roman Es (1986) und seine Verfilmungen stehen für eine „Angstlust“,5 die genossen werden kann und so die Teilhabe an einem größeren Kreis von Interessierten an einer weit verbreiteten, salonfähig gewordenen Unterhaltungs- kultur ermöglichen, während parodistische Filme sogar schon für Kinder produziert werden. Disneys Monster, Inc. (2001) dreht den Spieß um: Die Monster haben mehr Angst vor den Kindern. Zugleich nimmt sich Hollywood durch die Analogie der Angsttraum- mit der Traumfabrik selbst auf den Arm.
Auch die Behandlung des real Monströsen in der Literatur zeigt eine Entwicklung. Seit Hannah Arendts Diktum von der „Banalität des Bösen“ wenden sich AutorInnen und Texte dagegen, den Nati- onalsozialismus und Holocaust einseitig zu dämonisieren – man denke an Edgar Hilsenraths Roman Der Nazi und der Friseur (1971) oder an Marcel Beyers Roman Flughunde (1995). Teilhabe an einer pluralen, demokratisch verfassten Gesellschaft, so scheint eine für viele Intellektuelle konsensfähige Position zu lauten, geht nicht mit Verteufelungen einher. Auch die Figur des Teufels in der Literatur kann als Beleg dafür dienen, begonnen mit dem kanonischen Text der deutschsprachigen Literatur, mit Goethes Faust (1808/1832). Nicht nur die Kindsmörderin Gretchen, auch der Mephisto verfal- lende Faust selbst wird von Gott gerettet.
Zur Methode
Versteht man moralische Normen und Werte als ‚etwas‘, das wie die Dinge der Welt existiert, so neigt man, ehe man sich’s versieht, dazu, die Gründe der Moral auf metaphysische Begebenheiten zurückzuführen (Gott, das Gute, die Natur...). Das Verstehen, das Versehen und das Verführen lassen sich daher als Konstellationen des Bösen entdecken, die als Figurationen der vielfältigen kulturellen Kreationen einen Einschlag gefunden haben.
Aus philosophischer Sicht reicht es aus, den moralischen Realismus einer Kritik zu unterziehen, um das Gute, Schlechte und Böse zu relativieren: Sie sind dann (wie auch die Dinge) in einer ‚mind-de- pendency‘ zu begreifen. Aus diesem Grund kann des Weiteren eine Methodenanalyse aufzeigen, dass die unterschiedlichen Figuren des Bösen in literarischen, religiösen, institutionellen Werken auf Grundmuster moralischer Hypostasierungen – etwa auf einen enormen Fundus von Metaphern in der gnostischen Tradition – zurückgeführt werden können.
Die Verkörperung dieser (metaphysischen) Wertvorstellungen in der sozialen Lebenswelt lässt sich an menschlichen Handlungen überall dort aufweisen, wo sie zu einem bestimmten Lebenswandel ge- führt haben. Diese pragmatistische Hypothese6 ermöglicht es, ein Forschungs- bzw. Methodenkonti- nuum menschlicher Produktivität zu überblicken, in dem etwa von der philosophischen ‚Methexis‘ in den platonischen Dialogen über die Apostelbriefe des Paulus bis zu George Batailles ekstatischem Verschwendungsgeist sämtliche Formen der erlebenden, sozialen und fiktionalen Teilhabe miteinan- der in Korrelation gesetzt werden können.
So gilt es, drei Ebenen der ausgewählten Texte in Auge zu fassen: a) die transzendentale Ebene, auf der universale Kategorien von Produktion, Rezeption, Inferenz, oder kurz: Kommunikation betrachtet werden, b) eine Kasuistik der Figurationen, in der typische Fallbeispiele von Textgestaltungen vorge- stellt werden und c) die völlig offene und pluralistische Teilhabe einer konkreten (hier: literarischen)
4 Vgl. Neuhaus: Von Monstern und Menschen. 5 Vgl. Balint: Angstlust und Regression.
6 Vgl. James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung.
Figur an Kotext, Kontext und Situation eines konkreten Rezipienten mit all seinen Anschluss- und Va- riationsmöglichkeiten.
So können ‚Gut‘ und ‚Böse‘ als logische Paradoxien recht genau den logischen Kombinationen des (westlichen) Denkens zugeordnet werden:
- Konträrer Gegensatz: Der gleichberechtigte Dualismus von Gut und Böse zeichnet sich aus wie der Gegensatz von Schwarz und Weiß im Farbspektrum.
- Kontradiktorischer Gegensatz: Böse ist all das, was Nicht-Gut ist.
- Dialektischer Gegensatz: Aus dem wechselseitigen Widerspiel von Gut und Böse entsteht ein Prozess, der sich bei konkreten lebensweltlichen Manifestationen der Werte in diversen Fein- heiten der Vermischung realisiert.
- Privation: Das Böse als das am wenigsten Gute.
- ...
Die Kombinationsmöglichkeiten mit einer ontologischen Geltung zu versehen, wird von einigen Philo- sophen als ‚unsinnig‘ markiert. Da sich aber, aus der Überzeugung von Person oder Gruppen, Wertin- stanzen wie der Teufel, Ahura Mazda, Loki o.ä. seien real, deutliche Folgen in der Gestaltung des Le- bens erkennen lassen, haben auch die fiktionalen Wertkonstellationen auf die je gegebene Weise teil an der konkreten Lebenswelt.
Erste Ziele
Das Teilprojekt möchte solchen Figurationen des Bösen nachgehen und ihre Funktion innerhalb ver- schiedener Diskurse in Philosophie und Literatur, aber auch ihre Anschlussfähigkeit für anzustoßende Diskurse etwa im Schulunterricht in den Blick nehmen. Die Voraussetzungen in den beiden beteilig- ten Fächern Philosophie und Germanistik am Campus Koblenz sind hierfür ideal, beide Fächer bilden LehrerInnen in allen Bereichen aus (Grundschule, Realschule+, Gymnasium, Berufsschule...). Figurati- onen des Bösen finden sich in vielen Texten vom Bilderbuch über den Roman bis zur philosophischen Abhandlung. Gut und Böse als Praxen der Zuschreibung zu erkennen ist gerade dann besonders wich- tig, wenn unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, wie es zunehmend in den durch Migration geprägten westlichen Industrieländern und eben auch in Deutschland der Fall ist.
Forschungsliteratur in Auswahl
Alt, Peter-André: Ästhetik des Bösen. München: C.H. Beck 2010.
Balint, Michael: Angstlust und Regression. Mit einer Studie von Enid Balint. Aus dem Engl. übers. v. Konrad Wolff unter Mitarbeit von Alexander Mitscherlich und Michael Balint. 5. Aufl. Stuttgart: Cotta 1999.
Baudrillard, Jean: Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene. Berlin: Merve 1992.
Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstli- che Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994 (stb 2397).
Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Franz. v. Ulrich Köppen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973 (stw 39).
James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Mit einem einleitenden Essay von Peter Sloterdijk. Frankfurt/Main: Verlag der Weltreligionen 2004.
Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin u. New York: de Gruyter 2004.
Neuhaus, Stefan: Ich ist ein Monster. Identitätskonstruktionen in Literatur und Film am Beispiel von Nosferatu (1922). In: Stefan Keppler-Tasaki u. Fabienne Liptay (Hg.): Grauzonen. Positionen zwischen Literatur und Film 1910-1960. München: edition text + kritik 2010, S. 123-142.
Neuhaus, Stefan: Von Monstern und Menschen. Figurationen des radikal Anderen in Literatur und Film. In: Sabine Kyora u. Uwe Schwagmeier (Hg.): How To Make A Monster. Konstruktionen des Monströsen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011 (Film – Medium – Diskurs 37), S. 157-171.
Schäfer, Christian (Hg.): Was ist das Böse? Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2014 (RUB).» weiterlesen» einklappen