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Der Wert der Literatur. Kulturelle Orientierung durch literarische Kanonbildung

Laufzeit: ab 01.01.2013

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Kurzfassung


Thema

Das folgende Konzept geht davon aus, dass in der Sprache und Literatur unserer plural verfassten, reflexiv-modernen Gesellschaft keine allgemein verbindlichen Normierungen und Standardisierungen mehr unhintergehbare Geltung beanspruchen können und dass es darauf ankommt, die beobachtbaren Normierungsbestrebungen zunächst einmal wertfrei zu erfassen und zu beschreiben, um ihre Leistungen, Kontingenzen und Probleme in den Blick nehmen zu können. Das Lesen von und die Verständigung über...
Thema

Das folgende Konzept geht davon aus, dass in der Sprache und Literatur unserer plural verfassten, reflexiv-modernen Gesellschaft keine allgemein verbindlichen Normierungen und Standardisierungen mehr unhintergehbare Geltung beanspruchen können und dass es darauf ankommt, die beobachtbaren Normierungsbestrebungen zunächst einmal wertfrei zu erfassen und zu beschreiben, um ihre Leistungen, Kontingenzen und Probleme in den Blick nehmen zu können. Das Lesen von und die Verständigung über Literatur gehört zum Kern kultureller Identität, zumindest bis weit in das 20. Jahrhundert. Literarische Texte sorgten lange Zeit für kulturelle Orientierung, oftmals auf durchaus problematische Weise, etwa indem sie im 19./20. Jahrhundert die Konstruktion einer nationalen Identität bis hin zur nationalistisch oder rassistisch motivierten Exklusion vermeintlich andersartiger Gruppen förderten (Neuhaus 2002). Die Lektüre bestimmter Texte wurde zelebriert und ritualisiert, wobei die Entwicklung des Literaturbetriebs seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch als Sakralisierung beschrieben werden kann. Schriftsteller inszenierten sich als Genies, Schöpfer und Propheten oder wurden als solche verehrt. In der Inszenierung von Lesungen oder der Vergabe von Literaturpreisen, um nur zwei Beispiele zu nennen, ist immer noch ein Rest solcher Sakralisierung enthalten. Die (tatsächlich eher heterogene) Gruppe des (sogenannten) Bildungsbürgertums definierte sich lange Zeit stark über die Lektüre bestimmter AutorInnen, vor allem der Vertreter der Weimarer Klassik und der Romantik. Auch heute noch hat das Lesen bestimmter Texte die Funktion von Identitätsmarkern, etwa für bestimmte Gruppenzugehörigkeiten.
Wer sich mit Literatur beschäftigt, muss sich also auch die Frage stellen lassen, welche Texte er aus welchen Gründen für welche Zwecke auswählt. Hatte ein Literaturkanon früher den Status von (mythologischer) Selbstbegründung, muss das Lektüreverhalten in pluralistischen Gesellschaften argumentativ abgesichert werden. Der professionelle Umgang mit Literatur (etwa in zentralen Bildungsinstitutionen wie der Schule) setzt ein Bewusstsein über Kategorien und Kriterien literarischer Wertung voraus. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Frage bis vor einigen Jahrzehnten im literaturwissenschaftlichen Diskurs gar keine Rolle gespielt und erst seit den 1990er Jahren stärkere Beachtung in der Forschung erfahren hat. In der Breite des Literaturstudiums oder in der anwendungsorientierten Forschung ist die Frage nach der Leistung der Literatur für kulturelle Orientierung und normative Bindung aber bisher kaum angekommen. Welche Maßstäbe legen Akteure im Literaturbetrieb an Literatur aus welchen Gründen heraus an?
Universitäten bilden Literatur- und Kulturvermittler sowie Deutschlehrer aus – die universitäre Forschung ist also gefordert, die für die Literaturwissenschaft zentrale Frage der Leistung von literarischer Wertung und Kanonbildung für die kulturelle Identität gesellschaftlicher Gruppen stärker theoretisch zu reflektieren und empirisch-praktisch zu untersuchen.

Methodischer/systematischer Hintergrund

Seit es Literatur gibt, gibt es eine Bewertung von Literatur und seit es Theorie gibt, gibt es auch Wertungstheorien. Zunehmend haben diese Theorien begonnen, sich auch mit der Beziehung zwischen Autor (oder Werk, Text) zu Gesellschaft (Kollektiv, Gruppe...) zu beschäftigen. Der vom Terrorsystem Stalins verfolgte russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin begann bereits Ende der 1920-er Jahre einen Ansatz zu entwickeln, der die Literatur in Opposition zur herrschenden Ordnung stellte, ihr die Rolle der Kritik und Verbesserung dieser Ordnung zuwies. Literatur ermöglichte für Bachtin "die Schaffung der offenen Struktur des großen Dialogs" (Bachtin 1969, 84). Literatur war somit Medium einer kritischen (Gegen-) Öffentlichkeit.
Dass die Popularisierung von Kunst und Literatur auch Affirmation statt Subversion bedeuten konnte, thematisierte z.B. die Kritische Theorie, vor allem Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung. Die sich an die herrschenden Verhältnisse anpassende Kunst oder Literatur ist Unterhaltungsware und dient dem "totalen Betrug der Massen" (Horkheimer/Adorno 2004, 49).
Einerseits gilt also: In Kunst und Literatur "herrschen besondere Gesetze" (Horkheimer/Adorno 2004, 25). Andererseits stellen Horkheimer / Adorno bereits Jahrzehnte vor Bourdieu fest, dass es die Ökonomie ist, die auch die Kunst durchdringt: "Die reinen Kunstwerke, die den Warencharakter der Gesellschaft allein dadurch schon verneinen, daß sie ihrem eigenen Gesetz folgen, waren immer zugleich auch Waren […]" (Horkheimer/Adorno 2004, 166).
Die skizzierten Überlegungen zur literarischen Wertung im gesellschaftlichen Prozess sind zugleich Konzepte der Wirkung von Literatur, sie sind ebenso in der Konkurrenz zu anderen Massenmedien zu sehen wie – unter Abzug medienspezifischer Besonderheiten – auf diese übertragbar. Das Unbehagen an einer Wertungspraxis, die sich nicht für den Kontext interessiert, in dem Literatur entsteht und rezipiert wird, hat bereits 1952 Wolfgang Kayser artikuliert: "Die Wertung liegt in der Interpretation beschlossen. Damit müssen wir einer Frage Antwort stehen: wo bleibt die Rücksicht auf die historischen Bindungen, in denen das Kunstwerk wie jedes menschliche Erzeugnis steht?" (Kayser 1980, 156).
Die umfangreichsten theoretischen Konzepte, was Literatur ist und welche Wertmaßstäbe für sie gelten, haben Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu vorgelegt, ihre Studien sind zugleich auch Bestandteil einer umfassenderen Gesellschaftstheorie. Luhmann betont den Prozesscharakter von Gesellschaft, dessen Grundlage Kommunikation bildet. Bereits Wahrnehmung ist für Luhmann "vom Gehirn konstruiert" (Luhmann 1997, 16) und Kunst verdoppelt diesen Konstruktionsprozess mit den ihr eigenen Regeln. Kunst und Literatur sind "ein funktionales Äquivalent zur Sprache" (Luhmann 1997, 36), sie folgen aber anderen Regeln als die weitgehend konventionalisierte Alltagskommunikation. Man kann "an Kunstwerken das Beobachten lernen" (Luhmann 1997, 90). Beim Betrachten von Kunstwerken gilt es daher, "Was-Fragen durch Wie-Fragen zu ersetzen" (Luhmann 1997, 147). Kunstwerke besitzen eine "unwahrscheinliche Evidenz" (Luhmann 1997, 191). Aber der Kunst-Griff kann misslingen und zu einem "Verlust des Interesses" führen (Luhmann 1997, 208). "Auch mißglückte Kunstwerke sind Kunstwerke – nur eben mißglückte" (Luhmann 1997, 316). Davon zu unterscheiden ist die "Massenproduktion" von "Kitsch" (Luhmann 1997, 300), der sich eben dadurch auszeichnet, dass er die von Luhmann betonten Eigenschaften der Neuheit, Komplexität und Selbstreferenz nicht hat. Gerade der Unterschied zur Alltagskommunikation ist es, den Kunst und Literatur produktiv nutzen. Daraus folgt: "Eine Zukunft kann es, auch für Kunst, nur geben, wenn für Differenz optiert wird […]" (Luhmann 1997, 505).
Damit Kunst, die von der Neuheit lebt, überhaupt als solche erkannt werden kann, gibt es "[…] einen Kunstbetrieb. Das Kunstsystem stellt Einrichtungen zur Verfügung, in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen – etwa Museen, Galerien, Ausstellungen, Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit Kunstexperten, Kritikern usw." (Luhmann 1997, 249). Die Einzigartigkeit der Kunstwerke hat hier handfeste ökonomische Konsequenzen. Anders als im System Wirtschaft kann im System Kunst "Knappheit" genutzt werden, "um Preise sicherzustellen" (Luhmann 1997, 265).
Die zweite große Literaturbetriebs- und Wertungstheorie stammt von Pierre Bourdieu. Er unterteilt die Gesellschaft in Felder, die nach eigenen Regeln, nach spezifischen Codierungen funktionieren und sich im Zuge der Ausdifferenzierung der Gesellschaft gebildet haben, so dass es zu einer "Produktion und Zirkulation kultureller Hervorbringungen" kommen konnte (Bourdieu 2001, 427) – darin besteht die große Ähnlichkeit zu Luhmanns Systemtheorie. Die Gesellschaft resultiert für Bourdieu aus Verteilungskämpfen um verschiedene Kapitale, hier unterscheidet er neben ökonomischem Kapital symbolisches (etwa Aufmerksamkeit) und kulturelles Kapital (etwa Ansehen oder Expertenstatus) bzw. ökonomische, symbolische und kulturelle Profite (vgl. Bourdieu 2001, 190, 227ff.). Das "Feld der kulturellen Produktion" ist auch ein "Machtfeld" (Bourdieu 2001, 203). Den Begriff der Macht und sein Verständnis dürfte Bourdieu weitgehend von Michel Foucault übernommen haben. Der "Kampf" um "Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes", also nicht zuletzt um die eigene Position, generiert und vereinheitlicht das Feld (Bourdieu 2001, 368), es ist Motor seiner Entstehung und Entwicklung.
Als Prinzip guter Literatur gilt zunächst Verknappung des Angebots – statt des für andere Waren üblichen Ziels der Massenproduktion (vgl. Bourdieu 2001, 134ff., 198ff.). Die "Erfindung einer reinen Ästhetik" (Bourdieu 2001, 174) ermöglicht, dass nur der Autor selbst und dann einige ExpertInnen den besonderen Wert eines Texts erkennen können, wobei diese Erkenntnis freilich in einem Akt der Zuschreibung von Wert geschieht – nichts hat einen Wert an sich, er entsteht im Rezeptionsprozess. "Damit ist der Gegensatz total zwischen den Bestsellern ohne Dauer und den Klassikern, Bestsellern in Langzeitperspektive, die ihre Kanonisierung, also ihren erweiterten und dauerhaften Markt, dem Bildungssystem verdanken" (Bourdieu 2001, 237f.).
Die skizzierte Wertungspraxis hat sich historisch entwickelt, sie könnte auch ganz anders aussehen sie und kann sich weiter verändern. Bourdieu etwa vermutet (nicht als einziger), dass "die Logik der kommerziellen Produktion sich innerhalb der avantgardistischen Produktion (im Falle der Literatur über die vom Buchmarkt ausgehenden Zwänge) immer stärker durchsetzt" (Bourdieu 2001, 531).

Ziele

Die skizzierten Zusammenhänge gilt es weiter zu untersuchen: An welche Modelle der literarischen Wertung wird heute im Lese- und Wertungsverhalten angeschlossen? Wie wird Literatur zur Identitätsbildung genutzt, etwa von jenen, die an Bildungsdiskurse anschließen wollen, oder solchen, die über die Vertrautheit mit spezifischen Genres wie Fantasy eine spezifische Gruppenidentität generieren? Welche Argumente werden für oder gegen die Lektüre bestimmter Texte oder Genres vorgebracht? Welche fiktionalen Texte werden also aus welchen Gründen von welchen Publika gelesen und ggf. kanonisiert? Welche Rolle spielen dabei die jeweiligen ökonomischen und institutionellen Interessen?
Insbesondere die Instanzen Literaturkritik, Schule, Universität und Bibliothek sollen in den Blick genommen werden. Gibt es weiterhin Rituale im Literaturbetrieb und wenn ja, wie sehen sie aus? Welche Kriterien gelten für Auswahlentscheidungen und wie haben sich diese Kriterien verändert? Neben der Recherche von aussagekräftigem Material in den Massenmedien (z.B. Literaturkritiken, Besten- und Bestsellerlisten) sind Möglichkeiten der empirischen Erhebung von Daten etwa die teilnehmende Beobachtung, qualifizierte Interviews und Fragebögen.
Beispielhaft sei abschließend auf die Bewertung und Kanonisierung von Literatur im schulischen Kontext hingewiesen. Die Frage nach dem schulischen Kanon bedeutet auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Literatur in Erziehung und Bildung, die ohnehin eine Geschichte des Normativen ist, des Sollen und Dürfen. Tradierte Bildungsinhalte, (historische) Konzeption von (aktueller literarischer) Bildung, Auffassungen von (jugendlichen) Leser/innen und ihrer (zu erwerbenden) literarischen Kompetenz sowie nicht zuletzt die Tatsache, dass die schulische Begegnung mit Literatur vielleicht die einzige bleibt, geben der Wertung und Auswahlentscheidung der Lehrenden noch eine zusätzliche Bedeutung. Auf welcher Grundlage treffen Lehrende die Entscheidung für oder gegen ein literarisches Werk, insbesondere ein gegenwartsliterarisches – wobei zu bedenken ist, dass sich Gegenwartsliteratur durch einen geringeren Kanonisierungsgrad auszeichnet? Welche Argumente werden für oder gegen Texte vorgebracht, wie werden Auswahlentscheidungen argumentativ abgesichert? In welcher Weise sind Lehrende selber Lesende von Gegenwartsliteratur, Teilnehmende am öffentlichen, am massenmedialen Wertungsdiskurs, welche Medien frequentieren sie, wie informieren sie sich und wie reflektieren sie die Mechanismen der Wertung von Literatur? Wie wirkt sich die Auswahl von Texten auf die Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen aus?
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  • Kanon literarische Wertung kulturelle Orientierung

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