Kurzfassung
In den Bildungsstandards für das Fach Deutsch (2003) wird „in der Standardsprache sprechen“ als Anforderung an die mündliche Darstellung ausdrücklich genannt. Aus linguistischer Sicht ist jedoch alles andere als klar, was gesprochenes Standarddeutsch ist. Vor allem aufgrund der starken Varianz gesprochener Sprache sind viele Sprachwissenschaftler sogar der Meinung, dass es nicht sinnvoll ist, von einem gesprochenen Standard zu sprechen. Deutschlehrer sind in ihrer täglichen Unterrichtspraxis...In den Bildungsstandards für das Fach Deutsch (2003) wird „in der Standardsprache sprechen“ als Anforderung an die mündliche Darstellung ausdrücklich genannt. Aus linguistischer Sicht ist jedoch alles andere als klar, was gesprochenes Standarddeutsch ist. Vor allem aufgrund der starken Varianz gesprochener Sprache sind viele Sprachwissenschaftler sogar der Meinung, dass es nicht sinnvoll ist, von einem gesprochenen Standard zu sprechen. Deutschlehrer sind in ihrer täglichen Unterrichtspraxis aber sehr konkret damit konfrontiert, mündliche Leistungen von Schülern – auch im Hinblick auf deren Standardsprachlichkeit – zu beurteilen. Wenn nun seitens der Sprachwissenschaft keine Kriterien für die grammatische Einordnung gesprochener Äußerungen vorgelegt werden, besteht die Tendenz, mündliche Performanzen – nach dem Motto „Sprich, wie Du schreibst!“, „Sprich in ganzen Sätzen!“ – ausschließlich nach den Maßstäben der geschriebenen Standardsprache zu beurteilen und den Spezifika der Mündlichkeit somit nicht gerecht zu werden. Diese latente Schriftorientierung (written language bias) dokumentiert sich in vielen Deutschlehrwerken, welche die empirischen und theoretischen Erkenntnisse der Gesprochene-Sprache-Forschung und der Medialitätsforschung in den meisten Fällen noch nicht umgesetzt haben.
Vor diesem Hintergrund soll im geplanten Projekt ein modifizierter, gebrauchsbasierter Standardbegriff entwickelt werden, der Varianz und Medialität der Mündlichkeit angemessen berücksichtigt. Wir gehen von der Hypothese aus, dass sich ein De-facto-Standard der gesprochenen Sprache (re-)konstruieren lässt, an dem sich Sprecher implizit orientieren, der aber vom kodifizierten Standard signifikant abweicht.
Unser Untersuchungskorpus setzt sich aus überregionalen Abend-Talkshows sowie aus Unterrichtsgesprächen der gymnasialen Oberstufe zusammen. Die Talkshow-Daten sind als empirische Basis für die grammatischen Analysen zu gesprochensprachlichen Konstruktionen besonders geeignet, weil hier aufgrund von Überregionalität und Öffentlichkeit von einer deutlichen Standardorientierung der Akteure auszugehen ist: Welche medialitätsspezifischen, mündlichen Konstruktionen kommen in solchen standardnahen Gesprächssituationen vor? Das Unterrichtskorpus eröffnet eine weitere, gesprächsanalytische Untersuchungsperspektive, u.a. weil sich im Korrekturverhalten der Lehrer sowie auch im funktionalen Code-Shifting subsistente Normorientierungen zeigen können.
Diese beiden Untersuchungsmethoden werden in unserem Projekt zusammengeführt, um zu einem empirisch fundierten Standardbegriff für die Mündlichkeit zu gelangen. Der Schwerpunkt unseres Projekts liegt insgesamt auf der syntaktischen Dimension des gesprochenen Standards; es werden aber auch morphologische, phonologische und lexikalische Aspekte berücksichtigt. Zentrale Erkenntnisse der Gesprochene-Sprache- und der Medialitätsforschung sollen verstärkt für die Grammatikschreibung und die Sprachdidaktik fruchtbar gemacht werden.
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