Medizin und Gewalt (zusammen mit Kollegen der Univ. Heidelberg)
Laufzeit: 01.01.2012 - 31.12.2012
Kurzfassung
Internationale Konferenz „Medizin und Gewalt“ (Internationales Wissenschaftsforum Heidelberg, 3.-5. Oktober 2012)
Begründung für den Förderungsantrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft
Nicht zuletzt durch den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr wurde das Thema Medizin und Gewalt Gegenstand tagesaktueller Medienberichterstattung. „Gewalt“ ist in vielen unterschiedlichen thematischen Feldern der aktuellen gesundheits- und gesellschaftspolitischen Debatten in Deutschland präsent. Es befindet...Internationale Konferenz „Medizin und Gewalt“ (Internationales Wissenschaftsforum Heidelberg, 3.-5. Oktober 2012)
Begründung für den Förderungsantrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft
Nicht zuletzt durch den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr wurde das Thema Medizin und Gewalt Gegenstand tagesaktueller Medienberichterstattung. „Gewalt“ ist in vielen unterschiedlichen thematischen Feldern der aktuellen gesundheits- und gesellschaftspolitischen Debatten in Deutschland präsent. Es befindet sich an der Schnittstelle von Medizin- und Kulturgeschichte – daher erstaunt es, dass die Medizingeschichte im Unterschied zur allgemeinen Geschichte das Thema „Gewalt“, jenseits der Beziehungen von Medizin und Krieg oder der Auswirkung biologistischer Ideologien, selten in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt hat. Dieser Befund gilt sowohl für die Forschung in der Bundesrepublik, als auch international.
Die geplante Tagung wird daher neue Impulse zur wissenschaftlichen Forschung auf einem Gebiet setzen, das bisher in seiner medizinhistorischen und medizinethischen Dimension kaum systematisch bearbeitet wurde. Um dies zu realisieren, werden zwei grundlegende Ziele verfolgt. Einerseits geht es um die Eröffnung eines interdisziplinären Diskurses: Neben den historischen Fachbereichen und der medizinischen Ethik sollen die Vertreter verschiedenster betroffener Disziplinen zu Wort kommen, so Vertreter derjenigen ärztlichen und pflegerischen Bereiche, in denen Gewalt im Vorfeld (wie in der Kinderheilkunde, der Forensik oder der Militärmedizin) oder als strukturelles Problem (wie in der Psychiatrie und in der Krankenpflege) eine Rolle spielt. Ein solcher vielstimmiger Dialog soll die Reflexion zum Thema Gewalt in den medizinischen Bereichen vertiefen und weitere Anstöße zu Forschungen auf den betreffenden Gebieten geben. Andererseits sollen Vertreter der Geschichtswissenschaft mit Vertretern der therapeutisch arbeitenden oder anderweitig beruflich in aktuelle Problemstellungen (Beratung, Berufsausbildung) involvierten Disziplinen in ein Gespräch kommen, um historisches Wissen mit rezenten Befunden zu koppeln. Auf diese Weise ist es möglich, das Phänomen „Gewalt“ in seinen unterschiedlichen Facetten besser zu begreifen, und durch die Verknüpfung historischer Expertise mit professionellem Wissen aus dem Gesundheitswesen und dem Pflegebereich einen Beitrag zur Entwicklung von Lösungsstrategien für aktuelle Fragestellungen zu leisten. International anerkannte FachvertreterInnen sollen dabei auf der Basis fundierter Forschungsergebnisse mit diesen neuen, interdisziplinären Fragestellungen konfrontiert werden.
Die eingeladenen ReferentInnen aus der Bundesrepublik, der Schweiz, Österreich und den Niederlanden garantieren eine nationale Grenzen überschreitende Ausrichtung der Tagung, womit die grenzüberschreitende Bedeutung des Themas zunächst einmal vorwiegend für den deutschen Sprachraum bezeugt wird. Die Konferenz soll jedoch aufgrund des international relevanten Themas auch Impulse aus dem englischsprachigen Ausland aufnehmen und dorthin zurückwirken. In diesem Sinne wurden KommentatorInnen aus Großbritannien und Kanada eingeladen. Die Tagungssprachen werden Deutsch und Englisch sein.
In einer ersten Sektion wird „Gewalt“ zunächst terminologisch verortet (strukturelle Gewalt, manifeste Gewalt, Frage von Verletzlichkeit und Grenzen von Gewalt). In diesem Zusammenhang werden theoretische Aspekte im Umgang mit Gewalt in Institutionen angesprochen. Schließlich stehen methodische Ansätze und Quellengattungen im Focus, die sich für eine medizinhistorische Bearbeitung des Themas eignen.
Die Frage nach Gegenwärtigem und Vergangenem wird dann in fünf Sektionen fortgesetzt, die vertiefende Einblicke in das Thema und Gelegenheit zur Diskussion ermöglichen. Für diese fünf Abschnitte der Tagung gilt das Prinzip, dass sich jeweils ein Vortrag aus der aktuellen Geschichtsforschung auf einen Beitrag aus der klinisch-therapeutischen Gegenwart
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bezieht. Ein Auswahlkriterium für die ReferentInnen war ihre Anschlussfähigkeit an den jeweils anderen Fachbereich. Im Einzelnen handelt es sich um die Themen „Kinder und Gewalt“, „Geschlechterperspektive und Gewalt“, „Pflege und Gewalt“, „Militär und Gewalt“, sowie „Psychiatrie und Gewalt“. Auf diese Weise ist es möglich, Gewalt im Bezug zum Individuum und seiner sozialen V erankerung/V ernetzung, wie auch im Bezug zu spezifischen, programmatisch festgelegten Institutionen zu betrachten. Nicht zuletzt auch mithilfe der anschließenden Diskussion wird ein Bogen zwischen der (medizin-)historischen Entwicklung und der gegenwärtigen Diskussion gespannt.
Für die erste Sektion, die dem „Systematischen Kontext“ gewidmet ist, konnte Susanne Regener gewonnen werden, die als Medienhistorikerin einen wichtigen interdisziplinären Beitrag zur Geschichte der stigmatisierenden Funktion der Fotografie in Medizin und Kriminologie geleistet hat. Ihr Vortrag wird strukturelle Aspekte des Problems „Gewalt“ in visuellen Medien beleuchten. Anschließend thematisiert der Historiker Patrick Kury (Bern) das Phänomen Gewalt im Spannungsfeld von medizinischen Konzepten und Erinnerungskultur. Ein Fokus wird dabei auf neuen, im Kontext der vergangenheitspolitischen Diskurse entwickelten methodischen Zugriffsweisen auf das Phänomen Gewalt von Seiten der Geschichtswissenschaft liegen. Die beiden Beiträge werden ergänzt durch eine medizinethische Stellungnahme des Philosophiedozenten Micha H. Werner (Utrecht) zum Umgang mit Gewalt in der modernen Medizin. Als Kommentator wird der (Medizin-) Historiker Christoph Gradmann (Oslo), ein ausgewiesener Kenner der Forschungen über „Medizin und Krieg“, die wesentlichen Verbindungslinien zwischen dem Tagungsthema und den Diskursen der beteiligten Fachdisziplinen herausarbeiten.
Die zweite Sektion ist dem Thema „Kinder“ gewidmet. In dieser Sitzung antworten die Beiträge der Medizinhistorikerin Iris Ritzmann (Zürich), die sich in Ihrem viel beachteten Buch „Sorgenkinder“ intensiv mit der Geschichte der Kinderheilkunde befasst hat, und des Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Kölch (Berlin) aufeinander. Kölch leitet die Kinder und Jugendpsychiatrie des Krankenhauses Berlin Friedrichshain, in seiner Dissertation hat er sich mit der Konstruktion des Begriffs Psychopathie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befasst. Den Kommentar übernimmt der in Großbritannien tätige (Medizin-)Historiker Lutz Sauerteig (Durham), der sich in seiner Forschung unter anderem mit den Themen „Familie“ und „Sexualität“ befasst hat.
Die dritte Sektion ist geschlechtsspezifischen Aspekten von Gewalt gewidmet. Der historische Vortrag von Gabriele Czarnowski (Graz) gilt geschlechtsspezifischen Verbrechen der NS-Zeit an Zwangsarbeiterinnen in der Universitätsfrauenklinik Graz. Die aktuelle Perspektive vertritt die Heidelberger Kriminologin und Psychologin Angelika Treibel, die sich sowohl rechtswissenschaftlich, als auch in ihrer beratenden Tätigkeit mit Gewalttätigkeit in engen Geschlechterbeziehungen auseinandergesetzt hat. Kommentiert wird diese Sektion von dem Heidelberger Psychosomatiker und Traumatologen Guenter H. Seidler, unter dessen vielfältigen beruflichen Schwerpunkten die Supervision von Therapien missbrauchter Frauen eine zentrale Rolle spielt.
Die vierte Sektion trägt den Titel „Militär“. Hier geht es um die Gewalterfahrung der SoldatInnen, nicht nur im Kriegseinsatz, sondern auch als situationsbedingtes Problem innerhalb der eigenen Kameradschaft. Die historische Perspektive vertritt der (Medizin-) Historiker Hans-Georg Hofer (Bonn), der sich speziell mit den „Kriegszitterern“ des Ersten Weltkriegs befasst hat. Dieses historische Thema ist anschlussfähig an das aktuelle gewaltbedingter Belastungsstörungen in und nach dem Kampf bei SoldatInnen der Bundeswehr, die der Leiter der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie des Berliner Bundeswehrkrankenhauses, Peter Zimmermann, vorstellt. Den Kommentar für diese Sitzung übernimmt die Berliner Medizinhistorikerin Johanna Bleker. Ihr als Fischer-Taschenbuch erschienener Band „Medizin und Krieg“ gab in den 1980er Jahren einen entscheidenden Impuls für die kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Medizin in bewaffneten Konflikten.
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In der fünften Sektion wird die Gewalt in der Psychiatrie thematisiert. Die Züricher Sozialhistorikerin Marietta Meier macht aufgrund ihrer Forschung über Krankengeschichten aus der psychiatrischen Klinik im Burghölzli deutlich, wie in der Psychiatrie Gewalt, Zwang und Therapie miteinander verknüpft sind. Die Antwort auf ihr Referat wird Dr. Ralf Seidel vortragen, langjähriger ehemaliger Direktor des psychiatrischen LVR-Klinik Mönchengladbach. Das Thema „Gewalt“ hat den Psychiater lange nicht nur in der täglichen Praxis, sondern auch wissenschaftlich beschäftigt, dies unter anderem in historischer Perspektive: Er war Doktorand des Medizinhistorikers und Gutachters beim Nürnberger Ärzteprozess, Werner Leibbrand, und ist langjähriges Mitglied im Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation. Der Kommentator Paul Weindling (Oxford) ist gleichermaßen Experte für die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen im Bereich Medizin, wie für die historische Dimension der Traumatisierung von Überlebenden.
Gewalt ist ein häufig tabuisiertes, jedoch gerade deshalb zu thematisierendes Phänomen auch in der Alten- und Krankenpflege. So wird die (Medizin-)Historikerin Karen Nolte (Würzburg), ausgebildete Krankenschwester und Expertin für Pflegegeschichte, in der sechsten Sektion historische Quellen auf diesen Zusammenhang hin befragen. Die Pflegepädagogin Jutta Trieschmann (Kassel) wird als Lehrende im Bereich Pflege sowohl aktuelle Forschungen aus dem Bereich „Gewalt in der Pflege“ als auch das Überlegungen zu und Erfahrungen mit Gewaltprävention im Unterricht an der Krankenpflegeschule in die Tagung einbringen. Die Historikerin Sylvelyn Hähner-Rombach (Stuttgart), deren Quellenedition zur Pflegegeschichte das Forschungsfeld erheblich voranbrachte, übernimmt mit ihrem Kommentar die Aufgabe der historischen Kontextualisierung des Phänomens „Gewalt in der Pflege“.
Den Abschlusskommentar wird Susan Gross Solomon (Toronto), Professorin für Politologie und Direktorin der dortigen „European Studies“ übernehmen. Sie wird als Expertin sowohl für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie, als auch für transnationale Beziehungen vor allem in den osteuropäisch-russischen Bereich, nicht nur die im bisherigen Verlauf der Tagung angesprochenen Aspekte vorwiegend aus dem westlichen Bereich bündeln und kommentieren, sondern auch die Perspektive im Hinblick auf östliche Kulturen erweitern. Diese Thematik ergänzt die zentrale Thematik des Heidelberger Excellenzclusters „Asia and Europe in a global context“, mit dem das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Heidelberg in verschiedenen Projekten kooperiert, in einem zentralen Punkt. Die thematische Erweiterung wird sich positiv im Hinblick auf internationales Publikum und somit auch auf die Rezeption der Tagung im Ausland auswirken.
Welche Konsequenzen die Tagung für die aktuelle Medizin, besonders aber auch für die Forschung in der Medizingeschichte nach sich ziehen sollte, wird der Heidelberger Lehrstuhlinhaber für Medizingeschichte, Wolfgang U. Eckart in seinem Schlusswort zusammenfassen. Das Ziel der geplanten Tagung, historische und aktuelle Perspektive gerade bezüglich des Themas „Medizin und Gewalt“ miteinander zu verknüpfen, wird in Wolfgang U. Eckarts vieldimensionaler Arbeit in besonderer Weise verkörpert: Resultate seiner langjährigen Forschung zur Medizin in Krieg und Kolonialismus bringt er nicht nur in Fachpublikationen und in der Lehre zur Geltung, sondern auch in den zahlreichen „Kommentaren zur Zeitgeschichte“ für die von Guenter H. Seidler mit herausgegebene Zeitschrift zur Psychotraumatologie „Trauma und Gewalt“, deren erklärtes Ziel es ist, klinische Sicht mit gesellschaftlichen Perspektiven zu verbinden.
Federführende Veranstalter: Prof. Dr. Cay-Rüdiger Prüll (Mainz), Dr. Maike Rotzoll und Dr. Philipp Osten (Heidelberg).
Mitveranstalter: Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart, Prof. Dr. Monika Bobbert, Eva Schmitt (MA) (Heidelberg)» weiterlesen» einklappen